In einer sich so schnell wie nie zuvor verändernden Welt, in der China wirtschaftlich rasant aufstieg, Putin die Ukraine überfällt und eine Präsidentschaft Trumps in den USA möglich war, muss Deutschland mehr Verantwortung übernehmen. Das sagt Christoph Heusgen, seit mehr als vier Jahrzehnten Diplomat, einst Berater von Kanzlerin Angela Merkel und Vertreter der Bundesrepublik bei den Vereinten Nationen in New York und Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz.
Am vergangenen Sonntag war er in Wollershausen zu Gast, wo er von Christian Richter in der St.-Marien-Kirche interviewt wurde. Ausgangspunkt für viele Fragen war sein aktuelles Buch „Führung und Verantwortung. Angela Merkels Außenpolitik und Deutschlands künftige Rolle in der Welt“, doch das Gespräch der beiden mit anschließender offener Diskussion ging durchaus darüber hinaus.
Nach dem Kalten Krieg ist die politische Welt in eine Phase mit vielen Akteuren eingetreten, erläuterte Heusgen, Obamas Präsidentschaft habe zu einer veränderten Rolle der USA beigetragen und der Aufstieg Chinas zu einer Verschiebung von wirtschaftlicher Macht. Allerdings glaubt er nicht, dass dieser Aufstieg ewig anhält, vielmehr sieht er Indien oder Südafrika als jene Länder, die derzeit selbstbewusster werden und mehr Einfluss gewinnen.
Sie haben große Sorgen, fordern die Welt heraus, sagte er. In diesem Prozess müsse Deutschland seine neue Rolle noch finden, ebenso in der UNO, wo ja lange darum gekämpft wurde, einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu erlangen. Dort sieht er aber eher Länder Afrikas oder Südamerikas, denn Europa ist ja schon durch Frankreich vertreten.
In jedem Fall aber betrachtet er die UNO als wichtig für das weltweite Gefüge, auch im Hinblick auf den Klimawandel. Es müsse mehr Gleichgewicht hergestellt werden, meinte er, dennoch gelte: „Wir brauchen ein starkes Europa in dieser globalisierten Welt.“
Eine Änderung seiner Ansichten räumte er in Sachen NATO ein. Vor 15 Jahren noch sei Deutschland (und so die Kanzlerin und auch er) dagegen gewesen, Länder wie Georgien oder die Ukraine aufzunehmen, denn die Sicherheit und Stabilität wären dadurch nicht erhöht worden. Merkel habe den Vormarsch Russlands nach der Annexion der Krim gestoppt, doch dann griff Putin im vergangenen Jahr die Ukraine an, was er bis dahin nicht geglaubt hätte. „Daher bin ich heute der Meinung, dass wir der Ukraine nach dem Krieg die NATO-Mitgliedschaft geben müssen, da es sonst immer wieder zu einem Überfall kommen kann.“
Es sei falsch gewesen, Putin zu vertrauen und sich zu abhängig zu machen. „Wir haben Fehler in der Einschätzung gemacht, wie demokratisch Russland tatsächlich ist“, räumte er ein. Gilt das auch im Falle von China? Nein, denn in jedem Fall habe Deutschland seinen Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg dem Außenhandel zu verdanken, weswegen unbedingt weiter mit Ländern gehandelt werden solle, die vielleicht auch in vielem unberechenbar sind.
In Russland sei der Nationalismus das Instrument gegen wirtschaftliche Schwäche und innenpolitische Unsicherheit gewesen, das könnte in China auch passieren. „Wenn wir aber nur noch mit Ländern handeln, die völlig demokratisch sind, dann bleiben nicht viele übrig“, sagte er ein wenig zynisch.
In jedem Fall setze er auf Indien und die Länder Afrikas, die ganz besonders, denn Deutschland habe dort einen guten Ruf und der Kontinent wachse derzeit am stärksten. „Wir engagieren uns dort zu wenig“ mahnte Heusgen, wir seien zwar nach den USA der zweitgrößte Geber von Entwicklungshilfe, doch schaffen es nicht, dadurch auch politischen Einfluss zu nehmen.
Im Anschluss an das Interview gab es, wie eingangs gesagt, noch eine offene Fragerunde. Hier drehte sich erwartungsgemäß viel um den Krieg in der Ukraine, wo Heusgen klar auf die Unterstützung aus Europa und den USA setzt, um gegen Putin bestehen zu können. Die NATO-Osterweiterung im Sinne einer Bedrohung Russlands wurde als Stichwort genannt, worauf Heusgen dieser Darstellung widersprach und betonte: „Es hat nach 2004 keine Osterweiterung mehr gegeben.“ Auf die Frage, warum der Überfall denn nicht politisch verhindert wurde, sagte er: „Wir haben seit 2014 alles versucht. Die Russen wollten keine Einigung.“
Als wichtigste heutige und künftige Fragen der Außenpolitik nannte er den Klimawandel sowie die Digitalisierung und damit verbunden Cyberangriffe und eine Beeinflussung der Massen durch Propaganda über das Internet.
Christian Dolle